Kommentierte Spiele
Große Partien ... (VII): Aronian - Anand 2007
Vabanque - 29. Dez '13
Die folgende Partie wurde seinerzeit von einer Jury russischer Experten zur besten Partie des Jahres 2007 gekürt. Vielleicht ist sie sogar mehr als das: Aronians beste Partie und eine der schönsten Partien überhaupt. Vor allem das Finale (ab Zug 32) hinterlässt einen außerordentlich tiefen, nachhaltigen und ästhetischen Eindruck. Deswegen habe ich die Partie - trotz ihrer relativen Länge und Komplexität - in diese Sammlung einbezogen. Über weite Strecken ist die Stellung eher im unklaren Bereich, und man weiß nicht recht, wer besser steht. In dieser Phase habe ich mit Kommentaren ziemlich gespart. Insgesamt wären bei dieser Partie etwaige Varianten oft sehr lang und kompliziert ausgefallen, deswegen habe ich mich mehr denn je um verbale Erklärungen den mutmaßlichen Ideen hinter den Zügen bemüht.
Wem die Partie insgesamt zu lang und kompliziert ist, der möge sie doch wenigstens etwa ab Zug 30 nachspielen - es lohnt sich in jedem Fall!































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Wem die Partie insgesamt zu lang und kompliziert ist, der möge sie doch wenigstens etwa ab Zug 30 nachspielen - es lohnt sich in jedem Fall!
Levon Aronian Viswanathan Anand LInares | 5 | 2007.02.22 | 1:0
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1. d4 d5 2. c4 c6 3. Sf3 Sf6 4. Dc2 xc4 5. Dxc4 Lf5 6. g3 Sbd7 7. Sc3 e6 8. Lg2 Le7 9. O-O O-O 10. Te1 Weiß möchte e4 spielen ... Se4 ... was Schwarz mechanisch verhindert. 11. Db3 Db6 12. Sh4!? Lxh4 13. xh4!? Wer von uns hätte hier so einen Zug gespielt, der die weißen Bauern am Königsflügel total zersplittert lässt? Aber Aronian baut auf sein Läuferpaar, das er damit erhält, und auf die Möglichkeit, dann e2-e4 doch noch durchzusetzen. Sxe4 war natürlich eine solide Alternative, hätte aber nur Ausgleich erzielt. Aronian möchte mehr. Im Großmeisterschach kann der Sieg nicht einfach durch solides Spiel erreicht werden, man muss dem Gegner bestimmte (scheinbare oder echte) Vorteile anbieten, um sich andere Vorteile dafür einzutauschen. Sef6 Den Se4 mit Sdf6 zu stützen, sieht zunächst besser aus, aber Weiß spielt f2-f3 und setzt dann trotzdem e2-e4 durch. Übrigens konnte Schwarz weder hier noch im vorigen Zug mit der Dame auf d4 schlagen, weil Weiß jeweils durch Sxe4 nebst Td1 den Sd7 gewonnen hätte. 14. e4 Lg6 15. Dxb6 xb6 Schwarz schlägt mit dem Bauern, weil sich damit die a-Linie für seinen Turm öffnet. Deswegen hatte er auch nie auf b3 selbst getauscht, weil dann Weiß die a-Linie für seinen Turm hätte nutzen können. Auf die Zersplitterung der Bauern am Damenflügel kommt es hier jeweils nicht an, denn die 'schwachen' Bauern wären schwer anzugreifen. 16. Lf4 Die Früchte von Aronians mutiger Entscheidung 13. gxh4!? beginnen sich zu zeigen: der schwarzfeldrige Läufer fehlt bei Schwarz, die dunklen Felder sind schwach. Tfe8 17. Tad1 b5 Konsequent, um die a-Linie für den Turm zu nutzen. Schwarz droht mit b5-b4 den Bauern a2 zu erobern. 18. Ld6 Der dunkelfarbige Läufer hat alles im Griff. e5 Die einzige Möglichkeit, ein Gegenspiel zu organisieren, aber Weiß erhält dadurch einen Freibauern auf der d-Linie. Man erkennt die Parallele zur Partie Kramnik - Anand (Teil II meiner Serie). 19. d5 Momentan sieht dieser Bauer freilich noch sehr ungefährlich aus. Sh5 20. Lf1 Der weiße Läufer weicht nicht nur dem zu erwartenden Sf4 von Schwarz im Voraus aus, sondern sucht sich auch eine bessere Diagonale, auf der er schließlich aktiv werden wird. Die gegenwärtige ist ihm ja durch die eigenen Bauern e4 und d5 total versperrt. f6 Der schwarze Läufer leistet auf g6 nichts und soll daher nach f7 gebracht werden. 21. b3 Weiß bereitet a2-a4 vor; der weitere Plan wird sich gleich zeigen. Sf4 22. a4 xa4 23. xa4 Der Sinn des Manövers war, die b-Linie für den weißen Turm zu öffnen. Aber wie verteidigt Weiß seinen a-Bauern, wenn Schwarz jetzt Sb6 spielt? Ta1 würde dann ja den d-Bauern im Stich lassen, und wenn ihn Weiß vorher auf c6 tauscht, hat er seinen Haupttrumpf, den Freibauern, verspielt. Lf7 Auf
Sb6 ginge 24. a5! Txa5 25. Lc7 Ta3 Dieser Gegenangriff auf den Sc3 ist freilich noch eine Ausrede, so dass Schwarz kein Material einbüßt. Tc5 geht genauso. 26. Lxb6 Txc3 27. d6 Aber jetzt steht der Freibauer sehr stark. Schwarz kann ihn dann zwar mit Se6, was das Umwandlungsfeld ein weiteres Mal kontrolliert, noch stoppen, aber seine Figuren wären dann alle gebunden, und kein GM wird sich freiwillig in so eine Stellung ohne Chance auf Gegenspiel begeben.
24. Tb1 Ta7 Hier bestand tatsächlich eine Chance, den weißen Freibauern zu vernichten: nach ... cxd5 25. Txb7 Sf8! (d4 ist schlechter) hat Schwarz mit der Möglichkeit Tec8 immer genügend Gegenspiel. Aber auch der Textzug ist kein Fehler und sollte reichen, die Stellung zu halten. 25. Ted1 Jetzt hält Weiß seine Trumpfkarte wieder fest. Tc8 Nach dem Tausch auf d5 soll der Turm seine offene Linie haben. 26. Se2 Sxe2+ Ist das alles kompliziert! Nach 27. Lxe2 xd5 28. xd5 Jetzt wäre das entsprechende Lg4 nicht so gut wegen Tc6, weil Weiß im Gegensatz zu vorhin nicht Lxf4 antworten kann. Sf8 Auf Txa4 käme natürlich Txb7. 29. Lb5 Jetzt stehen die weißen Figuren bald alle auf idealen Plätzen. Taa8 30. Le7 'Wir machen den Weg frei!' sagen die weißen Läufer zum d-Bauern. Sg6 Muss denn der Läufer jetzt nicht wieder zurück? 31. d6! Sxe7 Ja, aber hat Weiß nach dxe7 Le8 denn noch viel? Das Umwandlungsfeld wäre dann fest in der Hand des Schwarzen, und Schwarz würde voraussichtlich sogar bald den Freibauern erobern. 32. Ld7!! Auch wenn dieser Zug streng genommen nicht zum Gewinn gereicht hätte, bekommt er hier von mir 2 Ausrufezeichen. Aronian macht gar keine Anstalten, auf e7 zurückzunehmen, sondern opfert seinen weißfeldrigen Läufer und lässt Schwarz scheinbar jede Wahl, seinen Springer wieder wegzuziehen. Eine fantastische Idee! Sc6 Hinterher wurde in ausführlichen - computergestützten - Analysen nachgewiesen, dass Anand sowohl mit Sf5 wie auch mit Sg6 das Remis hätte halten können (bei korrekter weiterer Fortsetzung, wohlgemerkt), während Sd5 ebenfalls verloren hätte. Man erkennt an dieser Stelle, auf welche Weise Partien auf allerhöchster Ebene entschieden werden bzw. welcher Art die Fehler sind, die auf diesem Niveau gemacht werden. Einen Anand kann man nicht so mir nichts dir nichts positionell überspielen und auch nicht im Sturmlauf nehmen. Aber man kann ihn in Stellungen führen, die so kompliziert sind, dass die Wahrscheinlichkeit groß ist, dass er unter mehreren gleich gut erscheinendenen Möglichkeiten die falsche wählt, weil dieser Zug am Brett absolut nicht als Fehler zu erkennen ist. Vermutlich hat Anand deswegen das Feld c6 für den Springer bevorzugt, weil er von dort aus auf das scheinbare Riesenfeld d4 hüpfen kann, was er gleich auch tut. 33. Txb7 Sd4 34. Lxc8 Txc8 Schwarz hat in dieser Stellung Springer und Läufer für Turm und Bauer, also eigentlich einen leichten Materialvorteil. Noch dazu sind die weißen Bauern am Königsflügel zersplittert und damit eher wertlos, während der schwarze Springer unvertreibbar, von einem Bauern gestützt, wie eine fette Made auf d4 sitzt. Weiß kann den schwarzen Springer weder mit einem Bauern angreifen noch ihn irgendwie abtauschen (Weiß hat ja keinen schwarzfeldrigen Läufer und auch keinen Springer mehr!). Auch der schwarze Läufer kann mit Ld5 gut aktiviert werden, wonach Schwarz auf ein Gegenspiel gegen den durch die Zersplitterung der weißen Bauern geschwächten weißen Königsflügel hoffen kann. Es ist erstaunlich, dass Weiß all diese scheinbar starken schwarzen Möglichkeiten einfach ignorieren kann, indem er seine Freibauern in die Waagschale wirft. Man sieht hier wieder einmal, wie wenig man sich bei der Stellungsbeurteilung auf allgemeine Erwägungen und bekannte Muster verlassen kann, sondern dass vielmehr jede einzelne Stellung konkret zu prüfen ist. Hier erweisen sich die weißen Freibauern als sehr viel stärker als das schwarze Figurenspiel, was in der Vorausberechnung sehr schwer zu erkennen war. Aronian hat bei 32. Ld7!! die Lage richtig eingeschätzt, Anand dagegen hat sie bei 32. ... Sc6? falsch beurteilt. Genau das ist es, wodurch solche Partien entschieden werden. 35. Tdb1 Um mit Tb8 dem weißen d-Bauern den Weg zum Umwandlungsfeld zu ebnen. Aber läuft damit Weiß nicht geradewegs in das von mir in der vorigen Anmerkung angedeutete Gegenspiel? Tf8 Anand entschließt sich zur passiven Verteidigung, nachdem er erkannt hat, dass das (möglicherweise geplante) Sf3+ nach 36. Kh1! (auf f1 rennt der weiße König in eine Springergabel) Ld5 (bedroht den weißen Turm und stellt die Batterie für ein Abzugsschach auf) 37. Tb8! keine Kraft hat: jedes Abzugsschach des schwarzen Springers läuft nur ins Leere. Insbesondere kann Schwarz nicht mit Sd2+ den Turm b1 erobern, weil sein eigener Turm ja auf c8 mit Schach einsteht. Jetzt freilich, mit dem Turm auf f8, würde das schwarze Manöver drohen. 36. Tb8 Le8 Wieder geht das angedeutete Manöver nicht, weil es Schwarz mindestens seinen Springer gegen den weißen d-Bauern kosten würde: 37. a5 Nachdem Schwarz den d-Bauern aufgehalten hat, meldet sich dessen Kollege zu Wort! Die Tragik von Schwarz in dieser Stellung ist, dass die beiden weißen Freibauern zu weit voneinander entfernt sind, um gleichzeitig gestoppt zu werden. Das wird sich gleich auf außerordentlich schöne Weise zeigen. Sf3+ Kann Schwarz seinen Plan jetzt etwa doch noch durchführen? Auf Kh1 möchte er Lc6 spielen. 38. Kf1 Geradewegs in die Springergabel! Weiß opfert den Turm b1 und lässt seine Bauern laufen. Während das Opfer 32. Ld7!! größtenteils auf Schachgefühl basierte, so fußt dieses Turmopfer auf präziser Berechnung. Sd2+ 39. Ke1 Sxb1 40. a6 Nach Txb1 würde Schwarz gewinnen. Jetzt aber entsteht eine Situation, wo der Springer, sattgefressen von der opulenten Turmmahlzeit, sich rülpsend zur Wand gedreht hat und ein Verdauungsschläfchen hält, um damit dem Läufer die ganze Arbeit zu überlassen, der mit den beiden weißen Freibauern aber schlichtweg überfordert ist. Schwarz hat in dieser Stellung ganze zwei Figuren mehr, und trotzdem ist er ohne Rettung. Lc6 41. a7 Jetzt ist der Turm b8 gut gestützt und es droht d7, weil der Läufer ja weiter das Umwandlungsfeld a8 bewachen muss. Kf7 Es hilft nichts: Der Boss persönlich muss aus dem Unterholz auf die Lichtung treten, um den frechen Bauern aufzuhalten. 42. d7 Trotzdem! Ke7 Beide Freibauern sind unter Kontrolle. Nein? 43. Txf8 Nein. Auch der Boss persönlich ist überfordert. Er darf nicht auf f8 zurücknehmen. Kxd7 44. a8=Q Lxa8 45. Txa8 Der Pluverdampf hat sich verzogen, die stolzen Freibauern sind verschwunden, der tapfere Läufer hat sein Leben für seinen Chef gegeben, nur das vollgefressene Ross döst immer noch, den unverdauten Bissen im Magen, an der gegenüberliegenden Wand. Das Endspiel ist für Weiß gewonnen. Bis hierhin musste Aronian bei seinem 38. Zug alles sehen. Für jemanden wie ihn ist das nicht allzu schwierig. h5 Relativ am besten war noch Ke8, wonach Weiß zumindest nicht sofort einen weiteren Bauern einstecken kann. Aber der schwarze Springer steht viel zu weit abseits, als dass Schwarz eine Rettungschance hätte. Die Agonie würde dann nur länger dauern. Vishy weiß das auch und macht noch lustlos ein paar Züge, ohne sich groß anzustrengen. 46. Ta7+ Ke6 47. Txg7 Jetzt droht Weiß gar noch mit Th7 den schwarzen h-Bauern zu erobern, wonach er mit seinem eigenen freien h-Bauern ganz leicht gewinnen würde. Daher spielt Anand einen Zug, der die Partie aber sofort beendet: Kf5 Den h-Bauern bekommt Weiß jetzt nicht, aber - den Springer! 48. Tg3! Plötzlich ist der schwarze Springer gefangen! Weiß holt ihn im nächsten Zug mit Tb3 einfach ab. Ein sehr eleganter Sieg Aronians gegen den Mann, der im gleichen Jahr noch Weltmeister werden sollte.
cutter - 29. Dez '13
Vabanque,
du übertriffst dich selbst mit deiner Reihe. Es ist ein echtes Vergnügen.
Kleiner Tippfehler: 45: Relativ am besten war noch Ke7...
Begeisterte Grüße
cutter
du übertriffst dich selbst mit deiner Reihe. Es ist ein echtes Vergnügen.
Kleiner Tippfehler: 45: Relativ am besten war noch Ke7...
Begeisterte Grüße
cutter
Vabanque - 30. Dez '13
Da musste ich gleich mal nachschauen. Ich war sicher, Ke7 geschrieben zu haben (hatte doch die entsprechende Stellung sogar noch vor meinem geistigen Auge!). Aber nein: der Tippfehlerteufel hat es zu Ke8 (was ja ein illegaler Zug wäre!) mutiert :)) Sachen gibt's ;)
Übrigens habe ich in der Anmerkung davor einen Buchstabendreher drin ... seh ich auch erst jetzt. Dabei habe ich alles mehrmals Korrektur gelesen! Übel, übel, sprach der Dübel - und verschwand in der Wand. Nein, in der Wand verschwinden werde ich wegen der blöden Tippfehler bestimmt nicht, keine Sorge! Deswegen nicht!
Danke fürs Kompliment jedenfalls!
Übrigens habe ich in der Anmerkung davor einen Buchstabendreher drin ... seh ich auch erst jetzt. Dabei habe ich alles mehrmals Korrektur gelesen! Übel, übel, sprach der Dübel - und verschwand in der Wand. Nein, in der Wand verschwinden werde ich wegen der blöden Tippfehler bestimmt nicht, keine Sorge! Deswegen nicht!
Danke fürs Kompliment jedenfalls!