Kommentierte Spiele
Carlsen-Special 2: Carlsen - Groenn, 2005
Vabanque - 01. Feb '14
Diese Partie wurde vom damals 14-jährigen Carlsen in
der Norwegischen Meisterschaft gespielt. Sein etwa 20
Jahre älterer Gegner Atle Groenn ist keineswegs ein
schwacher Spieler, sondern erlangte einige Jahre später
den IM-Titel. Aber in dieser Partie sieht er aus wie
eine der zahlreichen N.N.s, die in den Partien von
Morphy, Aljechin oder Tal auftauchen. Einige Jahre
später schrieb Groenn dann in einer norwegischen
Schachzeitschrift einen enthusiastischen Artikel über
Carlsen. Das erinnert ein wenig an Kieseritzky, der
nach dem Verlust der 'Unsterblichen Partie' (gegen
Anderssen) seinerzeit so begeistert war, dass er selbst
so schnell wie möglich für die Veröffentlichung seiner
eigenen Verlustpartie sorgte! Solchen Verlierern, die
in der Lage sind, neidlos die Leistung und das Genie
des Besiegers anzuerkennen, kommt ebenfalls ein
Ehrenplatz in der Schachgeschichte zu.































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der Norwegischen Meisterschaft gespielt. Sein etwa 20
Jahre älterer Gegner Atle Groenn ist keineswegs ein
schwacher Spieler, sondern erlangte einige Jahre später
den IM-Titel. Aber in dieser Partie sieht er aus wie
eine der zahlreichen N.N.s, die in den Partien von
Morphy, Aljechin oder Tal auftauchen. Einige Jahre
später schrieb Groenn dann in einer norwegischen
Schachzeitschrift einen enthusiastischen Artikel über
Carlsen. Das erinnert ein wenig an Kieseritzky, der
nach dem Verlust der 'Unsterblichen Partie' (gegen
Anderssen) seinerzeit so begeistert war, dass er selbst
so schnell wie möglich für die Veröffentlichung seiner
eigenen Verlustpartie sorgte! Solchen Verlierern, die
in der Lage sind, neidlos die Leistung und das Genie
des Besiegers anzuerkennen, kommt ebenfalls ein
Ehrenplatz in der Schachgeschichte zu.
Magnus Carlsen Atle Groenn Norwegian Championship | Sandnes, Norway | 9 | 2005.07.09 | D43 | 1:0
8








7








6
5
4
3
2








a
1

b

c

d

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f

g

h

1. Sf3 Interessant ist hier allein schon der Umstand, dass Carlsen eine geschlossene Eröffnung wählt und trotzdem eine Glanzpartie mit Matt im 24. Zug herauskommt. Das ist der Unterschied zu den Glanzpartien des 19. Jh., die fast alle mit 1. e4 e5 eröffnet wurden und binnen weniger Zügen zu offenen Stellungen führten (Spanisch spielte damals so gut wie niemand), so dass man sich über eine rasche Entscheidung nicht sehr wundern musste. d5 2. d4 Sf6 3. c4 c6 4. Sc3 e6 5. Lg5 h6 6. Lh4 Db6? Schwarz versucht Carlsen aus der Theorie herauszuführen, was gelegentlich eine gute Strategie sein kann. Aber dann muss der gewählte Zug gesund sein, was man über diesen Damenausfall nicht unbedingt sagen kann. Die Verletzung der strategischen Grundregeln (hier: die Dame zu früh auf aggressive Weise ins Spiel zu führen) darf man sich nur leisten, wenn man dafür wohlbegründete taktische Kompensation erhält (z.B. in der legendären Bauernraub-Variante im Najdorf- Sizilianer, die auch mit einem Damenausfall nach b6 eingeleitet wird). Das ist hier nicht der Fall. Der gewählte Zug ist für Carlsen zwar eine Neuerung, aber bestimmt eine, die ihn nicht im geringsten aus der Bahn wirft, sondern seinem sicheren Stellungsgefühl lediglich in die Hände spielt. 7. Dc2 Magnus lässt sich auf gar nichts ein. Mit einem nützlichen Entwicklungszug, der gleichzeitig seinen Einfluss auf das Zentrum verstärkt, deckt er den Bauern b2. Se4 Schwarz setzt im gleichen aggressiven, aber antipositionellen Stil fort. Würde Weiß jetzt zweimal auf e4 nehmen, so wäre Dxb2 wirklich stark, und die schwarze Strategie hätte sich plötzlich bezahlt gemacht. 8. e3 Sehr gut möglich war auch Sxe4 dxe4 Sd2, aber der Textzug ist einfacher und natürlicher, da Weiß damit die Entwicklung seines Königsflügels einleitet. Lb4 9. Ld3 Da5 Schon muss Schwarz ein Tempo verlieren, um konsequent im gleichen flotten Stil fortsetzen zu können. Er droht nun Sxc3 bxc3 Lxc3+ mit Gewinn, und auf den Deckungszug Tc1 möchte er Dxa2 spielen (der gefesselte Sc3 deckt den Bauern ja nicht!). Aber Carlsen kümmert sich gar nicht um den positionell ungesunden frühzeitigen Angriff von Schwarz, sondern setzt ganz cool unter Bauernopfer seine Entwicklung fort. 10. O-O! Sxc3 Lxc3 11. bxc3 Dxc3 ginge überhaupt nicht wegen 12. Lxe4! mit Figurgewinn! 11. xc3 Lxc3 12. Tab1 Machen wir eine Bestandsaufnahme: Weiß hat einen Bauern gegeben; dafür hat er jetzt alle Figuren entwickelt und seinen König in Sicherheit gebracht, außerdem beherrscht er das Zentrum und die halboffene b-Linie. Schlimmer noch, der kleine schwarze Läufer c3 hat sich verlaufen und droht mit c4-c5! abgesperrt zu werden. Von daher erklärt sich das folgende schwarze Rückführungsmanöver, das weitere wertvolle Zeit kostet, aber notwendig ist. xc4 13. Lxc4 Lb4 Es drohte nämlich a2-a3! Danach könnte der Bauer wegen Tb3 nicht genommen werden, und der Läufer c3 würde nie mehr den Weg zurück in die eigenen Reihen finden. 14. Se5 Und wieder haben wir ihn, den zentralen Vorpostenspringer! Ld6 Schwarz 'befragt' ihn mal. 15. f4 Jetzt würde der Abtausch auf e5 zur Öffnung der f-Linie für den weißen Turm führen, wonach die schwarze Stellung komplett perspektivenlos wäre. Dc7 Natürlich ist das ein totales Eingeständnis der verfehlten Eröffnungsstrategie von Schwarz. Die verlaufenen schwarzen Figuren sollen jetzt wieder an der Verteidigung des Königsflügels teilnehmen, aber es ist bereits zu spät. 16. De4 Das folgende Opfer war auch schon in diesem Zug möglich. Aber der Textzug ist typisch Carlsen: er bringt zuerst alle Figuren auf optimale Felder, bevor er zuschlägt. Schwarz hat ohnehin nicht den Schimmer eines Gegenspiels, so dass genügend Zeit da ist, auch noch die Dame zu zentralisieren. b6 Schwarz plant Lb7, aber dazu kommt es nicht mehr. Die letzte Chance bestand in f7-f5, obwohl das mit den entstehenden Löchern auf e5 und g6 erst recht der totale positionelle Ruin wäre. 17. Sxf7!! Dieses Opfer bringt alle weißen Figuren zur optimalen Wirksamkeit. Egal ob Schwarz mit dem König oder mit der Dame wiedernimmt, in beiden Fällen folgt f4-f5, wonach die beiden weißen Läufer, der Turm f1 und die weiße Dame entscheidend zusammenarbeiten. Konkrete Varianten hat Magnus hier wahrscheinlich gar nicht mal ausgerechnet. Solche Opfer basieren einfach auf präziser Stellungseinschätzung. Die materielle Übermacht bringt Schwarz nichts, wenn zwei Drittel seiner Armee überhaupt nicht entwickelt ist und daher auch nicht in den Kampf eingreifen kann. Dxf7 17... Kxf7 18. f5 Ke8 19. fxe6 g5 20. Dg6+ Kd8 21. Tf7 sieht mindestens ebenso schlimm aus. 18. f5 Dh5 Schwarz kann auch hier nicht rochieren, denn nach O-O 19. fxe6 könnte er seine Dame gar nicht aus der Schusslinie des Tf1 ziehen wegen des tödlichen Abzugs e6-e7+! 19. Lxe6 Auch fxe6 gewann. Sd7 Schwarz verlässt sich noch darauf, dass Weiß momentan kein direkt gewinnbringendes Abzugsschach mit dem Le6 hat. 20. f6! Daher dieser Zug; es droht Lg4+ mit Damengewinn. Sxf6 Ein letzter Versuch; die weiße Dame hängt, und auf Lxf6 könnte Schwarz mit Schach auf h2 einschlagen und somit noch etwas stören. 21. Txf6! Weiß lässt auch das nicht zu; jetzt gibt es kein Wiederschlagen auf f6, wieder wegen Lg4+. Schwarz könnte nun eigentlich aufgeben, er ermöglicht Carlsen jedoch noch einen eleganten Schluss, vielleicht sogar absichtlich, um ihm diese Freude zu gönnen. Häufig ist es jedoch auch so, dass man noch ein paar Züge braucht, um die bereits erkannteNiederlage psychisch zu verkraften, und so lange quasi in Trance oder unter Schock noch weiterzieht. Dxh4 Die Stellung ist voll von studienartigen Wendungen. Ein nettes Matt, das eine Fesselung ausnutzt, ergäbe sich nach 21... Lxe6 22. Dxe6+ Le7 (Kd8 Tf7+!) 23. Dxc6+ Kd8 24. Td6#. Auch 21... Le7 22. Dxc6+ Kd8 23. Tf8+!! führt zum Matt (Txf8 24. Dd6+ nebst Dxe7# bzw. 23... De8 24. Dd6+). Verzweifelt gibt Schwarz die Dame. 22. Dxc6+ Natürlich gewinnt auch Dxh4 problemlos. Carlsen wählt jedoch den künstlerischen Weg, indem er auf materiellen Gewinn nun endgültig verzichtet und ein schnelles Matt anstrebt. An dieser Stelle muss er es natürlich bis zum Ende ausgerechnet haben, sonst steht er plötzlich mit zu wenig Holz da. Ke7 22... Kd8 23. Dxd6+ Ke8 24. Lf7# ergibt ebenfalls ein nicht alltägliches Matt. Aber jetzt? Hat sich Carlsen etwa doch noch verrechnet? Der Ld6 ist gedeckt, und bei Weiß hängen Turm und Läufer! 23. Tf7+! Dann wird der Läufer eben auch noch geopfert! Kxe6 Die letzte Mahlzeit. Kd8 24. Dxd6+ führt aber auch schnell zum Matt (Ke8 25. Ld7+! Kxf7 26. De6+ Kf8 27. De8#) 24. Dc4# Dieses ungewöhnliche Matt hatte Carlsen bei 22. Dxc6+ im Auge. Es handelt sich hier um ein so genanntes 'reines' Matt, d.h. jedes Fluchtfeld ist dem schwarzen König nur auf eine einzige Weise genommen: hier die Felder e7, d7, f6 und f5 vom weißen Turm, die Felder d5, e6 und f7 von der weißen Dame, das Feld d6 vom eigenen Läufer, und schließlich das Feld e5 vom weißen Bauern d4. Reine Mattstellungen spielen eine große Rolle im Problemschach; in der praktischen Partie kommen sie ziemlich selten vor, werden aber auch hier in der Regel als äußerst ästhetisch empfunden. Für Tarrasch bildeten reine Mattstellungen im Partieschach geradezu eine Obsession. Übrigens war auch das Epaulettenmatt in der vorher gezeigten Partie Carlsen - Ernst ein reines Matt gewesen. Kann man daraus nun folgern, dass eine Spezialität Carlsens darin besteht, in seinen Partien reine Mattstellungen zu kreieren? Wie dem auch sei, wir sehen hier wieder eine moderne Partie, die den Vergleich mit den Errungenschaften Morphys nicht zu scheuen braucht, und die gleichzeitig zeigt, wie schlecht ein Spieler mit 2400 Elo doch aussehen kann, wenn er an den 'Falschen' gerät. Vielleicht waren die stets als so schwach diffamierten Gegner Morphys ja ebenfalls in dieser Spielstärkeklasse, nur dass man es ihren Partien nicht ansieht, weil sie von Morphy mit ebensolcher Leichtigkeit vom Brett gefegt wurden, wie es hier IM Groenn gegen Carlsen widerfuhr.